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Re: [ox-de] Text zu Keimformen bzw. der Entwicklung sozialer Vermittlungsmechanismen



Hi Stefan,

da uns nichts drÃngt, habe ich mir auch etwas Zeit gelassen mit der
Antwort. Inzwischen werden Differenzen auch deutlicher (was nichts
schlechtes ist). Ich beziehe mich auf deine Antwort vom 30.9.2011.

Wenn ich dich richtig verstehe, sind Menschen keine Subjekte. Sie
stellen ihre gesellschaftlichen Lebensbedingungen nicht her, sondern
werden von den gesellschaftlichen VerhÃltnissen hergestellt. Das
VerhÃltnis von Individuum und Gesellschaft ist das eines einseitigen
DeterminationsverhÃltnisses. Soweit richtig?

Auf dieser Grundlage stelle ich nun eine Reihe von Fragen, die sich fÃr
mich aus der genannten Grundlage ergeben.

Woher kommen die ganzen stofflichen und nicht-stofflichen Dinge, die wir
fÃr unser Leben brauchen â wenn wir sie nicht herstellen, wer denn dann?

Ganz offensichtlich sind die Menschen tÃtig, und ganz offensichtlich
stellen sie dabei auch etwas her. Wie erklÃrst du, warum sie das tun und
was sie da tun, wenn sie nicht die gesellschaftlichen VerhÃltnisse
herstellen?

Wenn die Menschen nicht die Gesellschaft herstellen (sondern umgekehrt),
wie konnte Gesellschaft dann historisch entstehen? Und wie sich
verÃndern, gar qualitativ?

Wenn das Âgesellschaftliche Ganze als Gesamtheit ... aller
âDenkkollektiveâ zu verstehen ist, dann schlieÃe ich, die Gesellschaft
ist fÃr dich vor allem ein Denkzusammenhang. Gleichzeitig sind die
Menschen aber ganz offensichtlich praktisch tÃtig. WÃrdest du das
praktische TÃtige dann als ungesellschaftlich oder auÃerhalb der
Gesellschaft befindlich bezeichnen?

Ich musste doch schlucken, als zu das Zitat von Gumplovicz brachtest,
der offensichtlich die Grundlage fÃr Fleck liefert:

was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale
Gemeinschaft.

Es passt allerdings zum einseitigen DeterminationsverhÃltnis durch die
VerhÃltnisse (hier: soziale Gemeinschaft).

In Anlehnung an Marx sage ich nichts anderes, als dass es das
gesellschaftliche Sein ist, welches das Bewusstsein der Menschen
bestimmt â und nicht anders herum.

Sorry, da muss ich den Marx in Schutz nehmen: Marx ging stets von der
Âmateriellen TÃtigkeit der Menschen aus:

ÂDas Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein,
und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. (Marx,
Deutsche Ideologie)

Marx hat das dialektische VerhÃltnis von Individuum und Gesellschaft
NICHT in ein einseitiges DeterminationsverhÃltnis verkehrt. FÃr Marx war
klar: Die Menschen stellen die Lebensbedingungen her, unter denen sie
leben. Ihr Bewusstsein spiegelt wieder, wie sie das jeweils
historisch-spezifisch tun:

ÂNicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben
bestimmt das Bewusstsein. (ebd.)

Wichtig ist auch, den Begriff Âbestimmt nicht als Âdeterminiert zu
missdeuten. Marx verwendet Âbestimmt im Sinne des Âbestimmenden
Moments in einem dialektischen VerhÃltnis, das er nicht vereinseitigt.
Ferner muss man den historischen Hintergrund der Marxschen ÃuÃerungen
berÃcksichtigen: Gegen den deutschen Idealismus, der das Denken zum
Ausgangspunkt erklÃrte, betonte Marx stets das Âwirkliche Leben als
Ausgangspunkt. Das halte ich auch fÃr richtig.

Gut, dass du diesen Irrtum ansprichst:

Ich dachte Ãbrigens immer, dass das was ich hier behaupte auf
dieser Liste common sense wÃre, weil das Konzept einer Keimform auf
gewisse Weise impliziert, dass Neues in Prozessen subjektlos
entsteht â eben in und aus dem Alten. (â) Hier wird ja eher
behauptet, auf der Suche nach dem Neuen zu sein â und das
impliziert, dass es nicht erst hergestellt werden muss, sondern
dabei ist sich herzustellen.

Dialektisches Denken bedeutet zu begreifen, dass hier kein Gegensatz
liegt. Es bedeutet, das Pendeln zwischen den Polen Âvoluntaristisches
Herstellen versus Âdeterministischer Prozess zu Ãberwinden. Das geht
allerdings nur, wenn man ebenso begreift, dass die menschliche
Gesellschaft und der gesellschaftliche Mensch keine GegensÃtze, sondern
eine begriffene (keine formale) Einheit bilden, dessen Momente eben
Mensch und Gesellschaft sind. Es geht darum das Neue im Alten zu
entdecken, das wir machen, um es auf den Begriff zu bringen und es dann
besser, gezielter machen zu kÃnnen etc.

Weiters:

Ich dachte auch â, dass Dialektik â bedeutet, die Prozesshaftigkeit
alles Seienden voraus-, also als Axiom und damit gedanklichen
Ausgangspunkt zu setzen. Dann wÃre die Prozesshaftigkeit, das
Werden aber nicht das Explanandum, sondern zu erklÃren wÃre alles
andere.

Damit ist Dialektik gravierend unterbestimmt. Sicher ist die
Prozesshaftigkeit ein Aspekt der Dialektik. GrundsÃtzlich ist der
Anspruch der Dialektik (zumindest der von Hegel) aber gerade, keine
Axiome zu setzen, sondern alles aus sich selbst und seiner Bewegung zu
erklÃren â eingeschlossen die Dialektik selbst. Dazu gehÃrt selbstredend
auch das ÂWerden (in Hegels ÂWissenschaft der Logik kommt es gleich am
Anfang). Das zu begreifen, ist tatsÃchlich eine immense Herausforderung.
Der Gewinn, das kann ich jetzt mal nur so pauschal sagen, ist, dass man
aufhÃren kann, sich in einem widersprÃchlichen VerhÃltnis gedanklich auf
eine Seite zu schlagen (Âdeterminieren die Menschen die Gesellschaft
ODER umgekehrt etc.), in dem man die widersprÃchliche Bewegung der
GegensÃtze begreift (insofern: ja, prozesshaft, aber mehr im Sinne von
Entwicklung der WidersprÃche).

Im Kontext der Kritischen Psychologie habe ich dazu mal einen Vortrag
gehalten. Du findest ihn hier als Slidecast (Folien plus Audio, Punkt 2
befasst sich mit der Dialektik):
http://grundlegung.de/material/vortrag-methodische-grundlagen/

Also wenn du sagst, Menschen stellen Gesellschaft her, dann
implizierst du damit, dass dieser Prozess das Explanandum und seine
Elemente das Explanans sind.

Nein. Auch hier wieder baust du einen Gegensatz, der keiner ist: Es gilt
die widersprÃchliche Bewegung des Herstellens der Gesellschaft unter den
Bedingungen der hergestellten Gesellschaft zu begreifen. Genau dafÃr
braucht man dialektisches Denken, denn es ist das dem Gegenstand gemÃÃe
Denken (also nicht etwa nur ein erkenntnistheoretischer Trick).

Ciao,
Stefan

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