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Re: [ox-de] Text zu Keimformen bzw. der Entwicklung sozialer Vermittlungsmechanismen



Hi Stefan,

bin ehrlich gesagt schon etwas Ãberfordert mittlerweile â mein
restliches Leben liegt relativ brach solange ich versuche diese Dinge
gedanklich zu verarbeiten ;)

Meine hier vorgebrachte Kritik richtet sich kurz gesagt gegen die 
Vorstellung eines Subjektstatus von menschlichen Individuen in Bezug 
auf den gesellschaftlichen Prozess

Verstehe ich dich richtig, dass du diese These tatsÃchlich ontisch 
meinst? Meinst du tatsÃchlich, dass Menschen in der Gesellschaft, die 
sie herstellen, keine Subjekte sind? Was sind sie denn dann?

Du implizierst in deiner Fragestellung schon ihren Subjektstatus, indem
du von der Gesellschaft sprichst, "die sie herstellen" ;) Um die Frage
zu beantworten: Ja, ich bin der Ansicht, dass sie sie *nicht*
herstellen. Sie sind nicht Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses,
auch wenn sie ein Teil desselben sind.

Ich fÃhre das mal etwas aus, ich lass da nÃmlich die ganze Zeit eine
nicht ganz unwesentliche Zwischenebene weg: Ich betrachte das
gesellschaftliche Ganze als Gesamtheit nicht der Individuen, sondern
aller "Denkkollektive", die ich â in Anlehnung an Ludwik Fleck â als die
eigentlichen Subjekte des Denkens und Erkennens fasse.

An dieser Stelle macht es vielleicht Sinn ein Zitat des frÃhen
Soziologen Ludwig Gumplovicz (aus dem Jahr 1905) zu bringen, das ich bei
Fleck aufgeschnappt habe: "Der grÃÃte Irrtum der individualistischen
Psychologie ist die Annahme, der Mensch denke. Aus diesem Irrtum ergibt
sich dann das ewige Suchen der Quelle des Denkens im Individuum und der
Ursachen, warum er so und nicht anders denke, woran dann die Theologen
und Philosophen Betrachtungen darÃber knÃpfen oder gar RatschlÃge
erteilen, wie der Mensch denken solle. Es ist dies eine Kette von
IrrtÃmern. Denn erstens, was im Menschen denkt, das ist gar nicht er,
sondern seine soziale Gemeinschaft. Die Quelle seines Denkens liegt gar
nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der
sozialen AtmosphÃre, die er atmet, und er kann nicht anders denken als
so, wie es aus den in seinem Hirn sich konzentrierenden EinflÃssen der
ihn umgebenden sozialen Umwelt mit Notwendigkeit sich ergibt".

Was Gumplovicz hier einfach nur soziale Gemeinschaft nennt, untersucht
Ludwik Fleck dann genauer in seiner sozialen Erkenntnistheorie und
spricht in diesem Zusammenhang eben von "Denkkollektiven". Jeder Mensch
ist Teil sehr vieler Denkkollektive & remixed deren unterschiedliche
Denkstile. Diese Denkkollektive sind Subsysteme der gesellschaftlichen
Gesamtheit. Und der Mensch ist Teil dieser Subsysteme.

In Anlehnung an Marx sage ich nichts anderes, als dass es das
gesellschaftliche Sein ist, welches das Bewusstsein der Menschen
bestimmt â und nicht anders herum. Was mich interessiert, ist eine
erkenntnistheoretische Fundierung dieser Behauptung und ich denke die
Fleck'sche Theorie ist da ein ganz guter Ansatz. Nur setzt er sich nicht
mit dem gesellschaftlichen Prozess in seiner Gesamtheit auseinander,
sondern fokussiert auf die Subsysteme.

Mit dem Subjektbegriff kann ich hier ebenso wenig anfangen wie wenn es
um andere Systeme ginge. Es braucht keinen Gott und kein Bewusstsein fÃr
die Entstehung und Entwicklung der ersten Mehrzeller, auch wenn das
ÃuÃerst komplexe PhÃnomene sind. Und ebenso wenig braucht es einen Gott
oder ein Bewusstsein um Denkkollektive bzw. Gesellschaft herzustellen.
Auch diese PhÃnomene sind Ergebnis von Selbstorganisationsprozessen.

Wenn du also sagst,â

Nun wirst du einwenden, dass trotzdem die Gesellschaft doch ein von
den je konkreten Individuen unabhÃngig funktionierendes Ganzes
darstellt, und das ist absolut richtig. Gleichzeitig wird diese
Gesellschaft von den Individuen hergestellt, sie ist also von dieser
Herstellung abhÃngig.

â, dann antworte ich, dass es die Individuen sind, die von der
Gesellschaft hergestellt werden â und nicht andersherum! Es sind nicht
freie Individuen, die sich zusammenfinden und eine Gesellschaft bilden
("herstellen"), sondern die Gesellschaft ist da â lange bevor wir unsere
ersten AtemzÃge tun. Und das war nie anders; d.h. es gibt hier auch kein
Henne-Ei-Problem, weil der Mensch in Gesellschaft zum Menschen wurde.

Menschlichen Individuen sind in Bezug auf den gesellschaftlichen Prozess
Lichter, die kurz aufleuchten und wieder erlÃschen. Daher formuliere ich
das auch so und nicht anders: In unseren Handlungen findet der
gesellschaftliche Prozess seinen Ausdruck.

Zugleich negiere ich die MÃglichkeit einer Nicht-Gesellschaft; also 
einer solchen, die keine Gesamtheit ist & die den Individuen daher als 
nicht fremd, oder besser gesagt gar nicht entgegentritt (weil wir ja 
hier nur eine Summe von Individuen imaginieren).

Hier nur eine kurze Anmerkung zu deiner Maggie-Thatcher-Polemik: Ich
negiere in diesem Absatz ganz generell die ExistenzmÃglichkeit von einer
Art "Gesellschaft" wie Thatcher sie sich vorstelltâ 

Gesellschaft = Gesamtheit = Fremdes â richtig? Damit bestÃtigst du meine 
EinschÃtzung von oben: Du hÃltst die bÃrgerlich-fremde Form der 
Vergesellschaftung fÃr die allgemein-menschliche, die â wenn das zutrifft 
â in der Tat nicht zu Ãndern wÃre. Dann kÃnnten wir allerdings auch die 
Suche nach alternativen Formen der Vergesellschaftung (der 
gesellschaftlichen Vermittlung) einstellen.

Ich sage wirklich an keinem Punkt, dass ich die bÃrgerliche Form der
Vergesellschaftung fÃr die allgemein-menschliche halte. Ich sage nur,
dass gewisse Aspekte, die an dieser kritisiert, diesem
historisch-gesellschaftlichem Spezifikum zugeschrieben werden,
allgemein-gesellschaftliche sein kÃnnten.

Die Suche nach alternativen Formen der Vergesellschaftung kÃnnte man
meines Erachtens getrost einstellen â wesentlich und unausweichlich bzw.
"notwendig" zugleich (vorausgesetzt die Keimform-These stimmt) wÃre,
dass immer mehr Menschen in ihrer alltÃglichen Praxis fÃndig werden,
auch ohne sich jemals bewusst auf die Suche begeben zu haben.

Ich dachte Ãbrigens immer, dass das was ich hier behaupte auf dieser
Liste common sense wÃre, weil das Konzept einer Keimform auf gewisse
Weise impliziert, dass Neues in Prozessen subjektlos entsteht â eben in
und aus dem Alten. Politische Theorien fokussieren in der Regel auf die
Problemstellung, wie man Neues *herstellen* kann; d.h. sie fragen
danach, wer wie wann VerÃnderung herbeifÃhren kann. Hier wird ja eher
behauptet, auf der Suche nach dem Neuen zu sein â und das impliziert,
dass es nicht erst hergestellt werden muss, sondern dabei ist *sich
herzustellen*.

Ich dachte auch â und da kann ich mich sehr irren, weil ich mich nie
wirklich richtig gezielt damit auseinandergesetzt habe â, dass Dialektik
(die hier ja immer wieder ErwÃhnung findet) bedeutet, die
Prozesshaftigkeit alles Seienden voraus-, also als Axiom und damit
gedanklichen Ausgangspunkt zu setzen. Dann wÃre die Prozesshaftigkeit,
das Werden aber nicht das Explanandum, sondern zu erklÃren wÃre alles
andere. Der Subjektbegriff (wie ich ihn kenne) widerspricht dem aber
doch â wenn ich sage, es braucht ein Subjekt zur VerÃnderung, dann
erklÃre ich damit VerÃnderung; setze sie also *nicht* voraus.

Setze ich sie hingegen voraus, dann stellt sich nicht die Frage nach
ihrem Subjekt â oder was wÃre denn wenn das angenommene Subjekt nicht
will? Bleibt der Prozess dann stehen und wir mÃssen der Behauptung
"panta rhei" eine FuÃnote verpassen, in der wir die Ausnahmen auflisten?
Oder reden wir hier von Subjekten, die aufgrund ihrer Funktion in Bezug
auf die Gesamtheit gar nicht anders kÃnnen als eben solche Subjekte zu
sein? Wenn ja, dann haben wir hier einfach vÃllig unterschiedliche
Subjektbegriffe (was bei der unendlichen FÃlle grundsÃtzlich kein groÃes
Wunder wÃre).

Aber wir haben ja von menschlichen Individuen und ihrem Einfluss auf den
gesellschaftlichen Prozess gesprochen â insofern kann das
MissverstÃndnis gar nicht derart gravierend sein. Also wenn du sagst,
Menschen stellen Gesellschaft her, dann implizierst du damit, dass
dieser Prozess das Explanandum und seine Elemente das Explanans sind.
Hab ich da dich oder die Dialektik falsch verstanden?

Liebe GrÃÃe,
Stefan.



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