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Moral und anderer Schrott (was: Re: [ox] Re: Zum Freiheitsbegriff)



Hi Hans-Gert,

eine Antwort auf deine Frage (ich möchte "eigentlich" keine
Moral-Debatte starten...):

Hans-Gert Graebe schrieb:
Stefan Meretz schrieb on Thu, 23 Aug 2001
mir geht nichts so ab wie eine moralbasierte Argumentation. Von
"Moral", "Ethik" und "Verantwortung" bekomme ich Ausschlag - so wie
uns das entgegengetragen wird.

Was ist "Moral", "Ethik" und "Verantwortung"?

Mein Ausschlag kommt von der Verkehrung von "Ursache und Wirkung"
(unscharf formuliert): In aller Regel wird Moral usw. als Ursache von
(gewünschtem) Verhalten angesehen und betrieben. Das wird dann umgekehrt
und messerscharf geschlossen: Weil die Leute so krass durch die Welt
rennen, muss was faul sein an Moral, Werten usw. Nächster Schluss: Die
Moral, Werte etc. wurden zerstört, bla, bla.

So gefasst ist Moral etc. ein personalisierter, abstrakter Diskurs, der
Individuen Zuständigkeiten zuschiebt, die sie überhaupt nicht haben
(können). Gesellschaftliche Probleme werden individualisiert, die
eigentlichen Probleme werden ausgeblendet (siehe etwa die Frage der
"Gewalt", anderer Thread).

Das, was im herrschenden
Wertekanon unsinnig, aber aus menschlicher, "übergeordneter" Sicht
vernünftig ist?

Es gibt diesen externen, übergeordneten Standort einfach nicht. Niemand
kann für andere definieren, was "vernünftig" ist, das können nur die
Menschen selbst tun. Wer aber so argumentiert, der will (bewußt oder
unbewußt) nur der blinden, abstrakten Rationalität der totalen
Verwertungslogik Geltung verschaffen.

Ich bin kein Philosoph, gewinne aber immer mehr den
Eindruck, dass Moral etwas ist, was eine Welt zusammenhält, die
auseinanderfliegen würde, wenn sie sich nur an den jeweils aktuellen
Werten orientieren würde.

Das entspricht genau der von mir kritisierten Sicht. Das ist aber nur
der Schein, der genau durch den o.g. Diskurs mit (re-)produziert wird.
Moral etc. hält gar nix zusammen, sie dient eher noch als
Rechtfertigungskonstrukt zur Perpetuierung von Herrschaft.

In meiner Sicht machen die Begriffe nur vom Kopf auf die Füsse gestellt
halbwegs Sinn: Moral, Werte etc. sind _Ausdruck_, bewertetes Result von
Verhalten (und nicht "Ursache"). - "Aber er gibt doch nun mal einen
Moraldiskurs, der sicher auch das Verhalten beeinflusst - also Ursache
von Verhalten ist" lautet das Gegenargument. Ja, aber das hat nicht mit
den eigentlichen Absichten der Moralisten zu tun. Es ist eine
bescheuerte Art und Weise über Realität nachzudenken - neben tausend
anderen bescheuerten Arten. Sie beeinflusst die Denkformen, was
irgendwann auch mal Prämissen für begründetes Handeln sind. Aber dieser
Zusammenhang nahezu beliebig. Menschliches Handeln ist einfach nicht
determiniert, sondern immer möglichkeitsoffen. [Eine völlig eigene Frage
ist es, warum offentlich v.a. religiöse Konstrukte mit einer hohen
Kohärenz des Handelns von Menschen einhergeht]

Ausschlag bekomme ich allerdings auch, wenn
ich sie von Wasserprediger-Weintrinkern aufs Brot geschmiert bekomme
(bzw. bekam, a la "Du bist doch ein guter Genosse, du musst doch
verstehen, dass ..."). Moral von außen, das geht irgendwie nicht. Aber
wir sollten sie nicht so ganz unbesehen über Bord werfen.

Moral, die Verhalten beeinflussen soll, ist _immer_ von aussen. Sie
gehört über Bord geworfen. Das, was von innen kommt, dein Denken über
Welt, ist deine individuelle Art der Weltbegegnung. Und immer, wenn sich
Linke bürgerlicher Formen bedienen, werden sie langfristig scheitern.
Davon seid "ihr Ossis" etwas geschädigt, gell?

Nimm nur als Beispiel die Oekonux-Liste: Hätten wir versucht, vorher
eine Art "Listen-Moral" festzulegen, wäre das Projekt sofort
gescheitert. Dennoch - ich nenne es sonst nicht so, aber hier mal zur
Illustration - hat sich eine Art "Moral" etc. herausgebildet. Sie ist
Resultat und nicht Ursache der Listenpraxis. Inwieweit diese "Moral" nun
je individuelles Verhalten beeinflusst, ist so vielfältig wie die Leute
sind: Ursache für ein bestimmtes Verhalten ist sie garantiert nicht -
Menschen sind eben keine Maschinen.

Weil Menschen immer Handlungsmöglichkeiten haben (insofern genuin "frei"
sind), können sie auf Moral scheissen. Und das ist gut so;-)

Ich weiss, mein Standpunkt ist da sehr, aehm, "deutlich". Wenn ich da so
etwas ins Schimpfen komme, richtet sich das keinesfalls gegen dich.

Ciao,
Stefan

-- 
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