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[ox] Re: Moral und anderer Schrott




Hallo Stefan Mz,

da scheine ich ja wirklich einen Nerv bei Dir getroffen zu haben.  Ich
gebe aber zu bedenken, dass "Moral" und "Ethik" auch anderenorts auf
dieser Liste (z.B. bei Robert Gehring) eine Rolle spielen, so dass
meine ähnlich gelagerte Abneigung ("Du bist doch ein guter Genosse, du
musst doch verstehen, dass ...") inzwischen gewisser Neugier gewichen
ist, diese Kategorien besser zu verstehen, ohne dass ich darauf bisher
auch nur in Ansätzen zufriendenstellende Antworten gefunden hätte. 

Was mich an Deiner Argumentation stört, ist die Tatsache, dass Du
Moral wohl nur als dem Menschen äußerliche Kategorie betrachtest. 

So gefasst ist Moral etc. ein personalisierter, abstrakter Diskurs,
der Individuen Zuständigkeiten zuschiebt, die sie überhaupt nicht
haben (können). Gesellschaftliche Probleme werden individualisiert,
die eigentlichen Probleme werden ausgeblendet (siehe etwa die Frage
der "Gewalt", anderer Thread).

Gibt es nicht auch so was wie "innere Moral", die sich genau gegen
dieses "Zuschieben von Zuständigkeiten", das heißt, dem gültigen
Wertesystem verweigert? Ob aus einem "höheren Prinzip" oder aus was
für Gründen auch immer, sei dahingestellt. 

Das, was im herrschenden Wertekanon unsinnig, aber aus
menschlicher, "übergeordneter" Sicht vernünftig ist?

Es gibt diesen externen, übergeordneten Standort einfach
nicht. Niemand kann für andere definieren, was "vernünftig" ist, das
können nur die Menschen selbst tun. Wer aber so argumentiert, der
will (bewußt oder unbewußt) nur der blinden, abstrakten Rationalität
der totalen Verwertungslogik Geltung verschaffen.

Ja, da hast Du sicher recht, aber das "höhere Prinzip" ist bei diesem
Akt der Verweigerung erst mal zweitrangig. Aus philosophischer Sicht
wäre für mich dann aber doch schon die Frage, ob solche individuellen
Verweigerungsakte oder Teile davon eine gemeinsame Wurzel haben und
wie diese ggf. begrifflich zu fassen ist. Das ist auch der Kern meiner
Frage 

Ich bin kein Philosoph, gewinne aber immer mehr den Eindruck, dass
Moral etwas ist, was eine Welt zusammenhält, die
auseinanderfliegen würde, wenn sie sich nur an den jeweils
aktuellen Werten orientieren würde.

Das entspricht genau der von mir kritisierten Sicht. Das ist aber nur
der Schein, der genau durch den o.g. Diskurs mit (re-)produziert wird.
Moral etc. hält gar nix zusammen, sie dient eher noch als
Rechtfertigungskonstrukt zur Perpetuierung von Herrschaft.

Ja, diese Ambivalenz sehe ich durchaus.  Die trägt GPL-Software aber
auch in sich. Mir liegt eher an der Frage, welche subtile Sprengkraft
solche Entwicklungen trotz des scheinbaren 'business as usual'
entwickeln können und wie entsprechende Dynamiken verlaufen. Da sind
wir mitten in der 'Keimform'-Debatte, wo mir der Holzkampsche
Fünfschritt als Phänomenologie einleuchtet, aber der damit verbundene
Wertewandel stark unterbelichtet erscheint. 

Alte Werte aufgegeben, neue (allgemein anerkannte) noch nicht da,
dazwischen liegt aber doch kein Vakuum, oder? Wie funktioniert ein
solcher Wechsel des Koordinatensystems gesellschaftlich? Gibt es eine
Ebene, die hinter den Werten steht und auf die man sich mental
zurückziehen kann, wenigstens zeitweise? Carl Amery meinte in einer
Diskussion neulich hier in Leipzig sogar, dass die Kirchen dafür einen
ähnlichen Resonanzboden abgeben könnten wie in der DDR vor 89. Ja,
dass dies ihre einzige wirkliche Chance sei.  

Das sind aber alles Dinge, die jenseits eines Moral->Diskurses<
liegen, wenigstens des "offiziellen".

Moral, die Verhalten beeinflussen soll, ist _immer_ von aussen. Sie
gehört über Bord geworfen. Das, was von innen kommt, dein Denken über
Welt, ist deine individuelle Art der Weltbegegnung. Und immer, wenn sich
Linke bürgerlicher Formen bedienen, werden sie langfristig scheitern.
Davon seid "ihr Ossis" etwas geschädigt, gell?

Vielleicht. Die Frage nach Kohärenz in dieser "individuellen Art der
Weltbegegnung" als Grundlage für Gesellschaftlichkeit, siehe
anderenthreads, blendest Du damit aber vollkommen aus.

Nimm nur als Beispiel die Oekonux-Liste: Hätten wir versucht, vorher
eine Art "Listen-Moral" festzulegen, wäre das Projekt sofort
gescheitert. Dennoch - ich nenne es sonst nicht so, aber hier mal zur
Illustration - hat sich eine Art "Moral" etc. herausgebildet. Sie ist
Resultat und nicht Ursache der Listenpraxis. 

Ich glaube kaum, dass Du hier Resultat und Ursache so genau
auseinanderhalten kannst. Von Dirk Herrmann habe ich z.B. lange nichts
mehr gehört. Aber das Beispiel ist eine gute Illustration, wie sich
Kohärenz herausbildet: aus Background der beteiligten Leute und
Kommunikation. Was ist Background, wenn die gesellschaftlichen Werte
wegbrechen?  Was ist der Background der Maquisaner?

Ich weiss, mein Standpunkt ist da sehr, aehm, "deutlich". Wenn ich
da so etwas ins Schimpfen komme, richtet sich das keinesfalls gegen
dich.

Och ja, ich bin da wenig empfindlich, so lange der Streit so angenehm
sachlich bleibt wie mit Dir. 

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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