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Re: [ox] Reality-Check



Hallo Stefan und andere Dauermitleser,

ich glaub ich kann einiges wegkürzen, so dass aus der Megamonstermail
eine nur noch Monstermail wird.

On Wed, Mar 13, 2002 at 10:31:52PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
Es mag hier und da unterschiedliche Gewichtungen geben und sicher ist
- - wie gesagt - die Einschätzung der Folgen anders. Bzgl. Reality-Check
wäre dann aber noch mal im Detail zu klären, wo Realitätserkenntnisse
entscheidend abweichen - was ich sehr spannend fände.

Na, das fängt doch schon damit an, dass Du kommerzielle FS immer
darstellst als "na, die gibt es auch", wärend ein Kritiker eher
betonen würde, wie wichtig die ist.

Ich versuche auch immer zu argumentieren, warum ich die
nicht-kommerzielle für strukturell überlegen halte. Wird die Realität
zeigen.

Wichtig hierbei: "Strukturell überlegen" hilft ja nur weiter, wenn
damit "strukturell überlegen auch unter Verwertungsbedingungen"
gemeint ist. Und da bin ich mir alles andere als sicher. Patente sind
da nur die Spitze des Eisberges. Die Realität zeigt also nicht
unbedingt wer strukturell überlegen ist, sondern vor allem, wie die
Machtverhältnisse sind.

Aha. Könntest du da mal Beispiele erwähnen? Was sind denn die
Sanktionsmöglichkeiten, mit denen im Zweifelsfall das Kommando
gegenüber Widerborstigen durchgesetzt werden kann.

Kündigung? Ganz altmodisch.

Ok. Dann müssen wir jetzt wirklich mal eine Unterscheidung einführen.

Wenn ich von Freier Software spreche, dann meine ich die, die auch
Freiheit für die EntwicklerInnen bedeutet. Wenn Software unter
strukturellen Zwangsverhältnissen geschrieben wird, dann mag sie zwar
open source sein, aber (m.E.: entscheidende - und damit gehe ich
durchaus über die Definition der FSF hinaus) Teile der Freiheit
fehlen. D.h. im Auftrag erstellte Freie Software ist für mich wegen
der Entfremdung etwas anderes als Frei erstellte Freie Software.

Oha. Na das ist dann wirklich eine ganz eigene Sache und das geht auch
z.B. definitiv nicht aus Deinen Vorträgen (soweit ich sie kenne)
hervor. 

Aber die Frage ist auch, inwieweit eine solche Sicht sinnvoll ist.
Oben habe ich ja grad angemerkt das "strukturell überlegen" nur unter
Verwertungsbedingungen interessant ist. Die von Dir gedisste FS unter
Kommando ist aber gerade da sehr wichtig. 

Gedankenexperiment:

Du bringst eine GPL++-Lizenz raus, die die GPL enthält plus der
Einschränkung, die Du oben formulierst (wie auch immer man das
rechtlich machen würde, ist wahrscheinlich alles andere als trivial).
Ich glaube die wäre sogar mit den vier Freiheiten kompatibel, müsste
man aber mal checken. Trotzdem glaube ich, dass die von der Community
abgelehnt würde und zwar genau aus dem genannten Grund, dass FS damit
ihre strukturelle Überlegenheit unter Verwertungsbedingungen verlieren
würde (so sie sie denn überhaupt hat).

Was sagt uns das jetzt über Deine Stefan-Merten-Freie-Software? Das Du
die Verwertungsbedingungen nicht beliebig mal dazu und mal
wegdefinieren kannst. Du musst Dich schon entscheiden.

Grosse Teile des gcc, von Linux etc.
werden in Arbeitsverhältnissen produziert. Das blendest Du gerne aus
oder stellst es als marginal dar, ist es aber nicht.

Hast du Zahlen? Meine Wahrnehmung ist die, daß am ehesten Adaptionen
an bestimmte Zielsysteme oder bestimmte Hardware im Auftrag entwickelt
werden - aber nicht der Hauptteil.

Sehe ich ganz anders. Gerade die Kernkomponenten (Kernel, gcc,
desktop) werden IMHO von Firmen in grossem Masse mitentwickelt und
gefördert. Ausserdem ist ja gerade die Kompatibilität auf vielen
Systemen eines der Hauptargumente für FS. Auch hier wieder: Du musst
Dich schon entscheiden, worüber Du sprichst.

Das ist mir beim Überarbeiten Deines
Vortrags aufgefallen, dass Du das etwas stillschweigend unter den
Tisch fallen lässt bzw. teilweise sogar falsch darstellst als neue
Entwicklung.

Da wäre ich interessiert, was du genau meinst. *Das* will ich nämlich
sicher nicht.

Du stellst Kommerzialisierung FS als neues Phänomen dar, ist es aber
nicht. Die FSF lebt von Anbegin an zu einem großen Teil von
Firmenspenden, z.B. Richard Stallman hat von Anfang an an, FS
verkauft.

Na, das ist aber nicht wie oben "im Auftrag" sondern eher als Spende
bzw. Verwertung zu verstehen. Entfremdung kann natürlich auch schon
bei (dauerhaften) Spendenbeziehungen auftreten, aber dann ist es ja
auch schon wieder eher "im Auftrag" - wenn auch vielleicht
unausgesprochen und/oder eingebildet.

HP hat eine Version des gcc gepflegt die auf ihre PA-RISC-Prozessoren
optimiert waren und das war zu Zeiten als Linux noch ein Furz im Reich
der Ideen war. Es gibt dutzende weitere solcher Beispiele. 

Welche
Strukturen sich realiter bilden ist dann schon wieder Gegenstand von
Untersuchung. Jedenfalls sehe ich bisher keine klaren Widersprüche
gegen die Selbstentfaltungsthese.

Was genau meinst Du jetzt mit "Selbstentfaltungsthese"?

Das Freie Software (nichtkommerzielle sogar: ausschließlich) als
Ausfluß von Selbstentfaltung entsteht. Das schließt Freiwilligkeit
ein.

Genau. Und das sehe ich als falsch an. Selbstentfaltung ist _ein_
Moment unter mehreren bei der Produktion FrS. Das belegen auch die
letztlich hier gemailten Umfragen. Und das gilt sowohl bei
kommerzieller als auch bei nichtkommerzieller Produktion. Bei ersterer
natürlich verstärkt.

Das ist dann wirklich zu klären. Ich verstehe Selbstentfaltung in
einem recht umfassenden Sinne. Da paßt viel rein. Was paßt denn deiner
Meinung nach nicht?

In der letztens hier genannten Umfrage waren es jeweils ca. ein
viertel für fun/job/idealismus/lernen. Ich würde mal 1 und 3
gröstenteils unter Selbstentfaltung subsumieren 2 garnicht und 4
teilweise. das macht dann vielleicht 75% Selbstentfaltung.

Mal andersrum: Wie sollen Privilegien in einer GPL-Gesellschaft
entstehen bzw. sich dort halten können?

Um bei dem großen Selbstentfaltungsding mitmachen zu können sind
Kenntnisse und Mittel erforderlich und zwar nicht zu knapp.

Hupps? Für mich nicht.

Ja, da kommen wir der Sache vielleicht näher.

Die hat
nicht jedeR. Auch oder womöglich sogar gerade in einer auf
Selbstentfaltung basierenden Gesellschaft nicht.

Wait a minute. GPL-Gesellschaft beinhaltet für mich *zentral*, daß
Knappheit abgeschafft ist. Dann hat das jedeR per Definition und es
unterliegt einzig und alleine irgendwelchen Anlagen und der freien
Entscheidung einer Person. D.h. wer die Kenntnisse und Mittel haben
*will*, kann sie auch bekommen. Eigene Anstrengung um die eigenen
Handlungsmöglichkeiten kann einem aber niemensch abnehmen.

Genau was Du hier "eigene Anstrengung um die eigenen
Handlungsmöglichkeiten" nennst ist aber etwas, was einem nicht in die
Wiege gelegt wird. Die Möglichkeit dazu vielleicht, aber das meiste
davon wird ja den meisten gründlich ausgetrieben. 

Oder mal etwas theoretischer ausgedrückt. Die Entstehung des
bürgerlichen Individuums haben vielleicht überhaupt erst 20% der
Menschheit mitvollzogen (und die anderen sind tendeziell Verlierer).
Du kommst jetzt her und willst den nächsten Schritt machen. Da bin ich
ja schwer dafür, nur sind dafür vielleicht gerade mal 5% der Leute
"reif".

Wenn ich dich recht verstehe, dann behauptest du irgendwelche
Eintrittsbedingungen für Selbstentfaltung. Das würde ich heftigst
zurückweisen. Die Fähigkeit zur Selbstentfaltung ist dem Menschen qua
Menschsein gegeben. 

Kann sein. In dem Punkt bin ich noch am nachdenken und wollte erstmal
Holzkamp lesen, bevor ich da weitermache.

Wie sich das individuell, historisch, kulturell
ausbuchstabiert ist höchst variabel. Vielleicht ist es nicht mal so
eine steile These zu vermuten, daß Mitglieder einer
Stammesgesellschaft sich auch schon selbstentfaltet haben.

Sicher nicht. Der Punkt ist nur das individuell ausbuchstabieren. Wie
gesagt sind den Leuten die Selbstentfaltungsmöglichkeiten ziemlich
ausgetrieben worden. Wenn Du jetzt auf Deinem hohen Theorieross
daherkommst und ihnen sagst, dass sie aber "qua menschsein" sich bitte
selbstentfalten sollen werden sie Dich wohl vor allem mit grossen
Augen angucken. Für dieses Selbstentfaltungsdingens braucht es
tatsächlich so etwas wie ein neues Individuum (oder besser vielleicht
die Freilegung eines alten). Die Softwareentwickler haben das
teilweise, andere sicher auch, aber eben insgesamt vielleicht nur 5%
der Bevölkerung.

Versteh mich nicht falsch, mir geht es nicht darum den "neuen
Menschen" zu erziehen oder darum dass nicht auch konkret jeder
Einzelne zur Selbstentfaltung fähig wäre. Mir geht es nur darum,
dass es eben ein grosser Schritt ist von der Theorie, nach der jeder
"qua Menschsein" sich Selbstentfalten kann und der Praxis, das auch
für die Leute konkret möglich und wünschenswert zu machen.

Doch erklärst Du nirgends, was mit den anderen Leuten
passiert.

Brauche ich auch nicht, weil es für mich keine "anderen Leute" gibt.

In der Theorie nicht, in der Praxis schon.

Selbstentfaltung ist halt auch ein Egotrip. Ist ja auch
alles gut und richtig, ich bin ein grosser Selbstentfaltungsfreund,
aber die Tragweite dieser Umwälzung ist halt nicht von allen auf
einmal mitzumachen.

Was hindert sie unter den von mir genannten Bedingungen deiner Ansicht
nach?

Der Wunsch, gesagt zu kriegen, wo´s langgeht.
Sklavenmentalität. Angst vor Freiheit. Wunsch nach z.B. nationaler
Identifikation. Jemand besseres sein wollen. Sexismus, Rassismus, ...

Ich bin jetzt nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube mit "von mir
genannten Bedingungen" meintest Du die ominöse GPL-Gesellschaft, oder?
Der Thread wird echt unübersichtlich.

Möglicherweise sind alle diese Dinge nur Ausfluss des
Verwertungssystems, glaub ich aber nicht. Und selbst wenn, werden sie
nicht von heute auf morgen verschwinden und "wir" müssen irgendwie
damit umgehen, sowohl theoretisch als auch in der Praxis.

Deswegen ja immer meine Rede, dass es
Übergangssachen braucht, z.B. Existenzgeld, z.B. FK, vielleicht sogar
Tauschringe.

Nun, ich rede auch oft nicht so sehr über eine Übergangszeit -
zugestanden. Übergangszeiten sind immer schwer und besonders
turbulent. Bifurkationspunkte halt.

So lange es aber nicht wenigstens die Andeutung eines gangbaren Weges
gibt, wird Dir auch niemand Dein Ziel glauben. Und nicht zuletzt ist
immer der Weg das Ziel.

Das dann einfach wegzubügeln mit "Alles nur
Verwertungsdreck" wie Du es tendenziell machst, ist ungefähr genauso
sinnvoll wie das alte Frankfurter-Schule-Denken ala "es gibt kein
richtiges Leben im Falschen".

Da gibt es aber schon einen erheblichen Unterschied: Während die
Frankfurter Schule das wirklich kategorisch ausschließt, versuche ich
mit einem Kriterienkatalog mir die Dinge anzuschauen. 

Na, wie der Aufklärungsthread zeigt, war die Frankfurter Schule da bei
weitem nicht so kategorisch, wie dieses Zitat sagt. Ihre Vertreter
haben ja auch alle nach unterschiedlichen Auswegen (Wir würden es
heute vielleicht "Keimform" nennen) gesucht.

Und leider haben
wir / ich es hier noch nicht geschafft, über konkretes Handeln auf der
Basis unseres / meines Kriterienkatalogs mal näher nachzudenken :-( .

Ja, insbesondere wird das kaum möglich, solange Du Dich nicht in die
Niederrungen des "Weges" und des Übergangs hinabbegibst.

Was ich halt nicht verstehe bei Dir ist,
wie Du einerseits immer die positiven Entwicklungen in den Vordergrund
stellst und von dem Negativismus weg willst aber andererseits halt
theoretisch so überaus rigoros daherkommst, sobald etwas auch nur
entfernt nach "Wert" riecht (ausser es ist FS, da kann es stinken wie
will, Du riechst immer nur Selbstentfaltung ;-). Das passt für mich
nicht zusammen.

Vielleicht hast du da ein bißchen recht ;-) . Aber du bist mein
Lieblingskorrektiv :-) .

Das hast Du bestimmt vor den anderen beiden Schimpfmails geschrieben,
oder? ;-)

Eine Theorie ist genau dann nützlich, wenn sie mir Antworten für meine
Praxis gibt (oder mir wenigstens hilft, die richtigen Fragen zu
stellen) _und_ zufällig auch halbwegs stimmt.

Nun kommt es natürlich ein wenig auf deine Praxis an, aber eine
Theorie, die besser stimmt (d.h. Realität abbildet), dürfte auch
bessere Antworten für deine Praxis geben können - oder?

Nicht zwingend. Z.B. war die aristotelische Physik so lange eine
bessere Theorie, bis das Militär massiven Bedarf für ballistische
Berechnungen hatte. Erst dann wurde die Newtonsche Physik besser. Das
hatte wieder Auswirkungen auf die Praxis, bis schliesslich auch die
Theorie nicht mehr passte usw. ad infinitum.

Ich sehe gar nicht den Widerspruch.

Der Widerspruch liegt darin, dass die Newtonsche Physik auch schon
vorher besser gewesen wäre, es aber niemanden interessiert hat und sie
somit auch nicht besser war und konsequenterweise Newton auch erst ein
paar hundert Jahre später geboren wurde.

Grüße, Benni
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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