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Re: [ox] Re: Moral und anderer Schrott



Hi Benni, Robert, Gabriel, Hans-Gert et al,

dann mach ich mal weiter den Anti-Moralisten...;-)

Benni Bärmann schrieb:
Mein Ausschlag kommt von der Verkehrung von "Ursache und Wirkung"
(unscharf formuliert): In aller Regel wird Moral usw. als Ursache von
(gewünschtem) Verhalten angesehen und betrieben. Das wird dann umgekehrt
und messerscharf geschlossen: Weil die Leute so krass durch die Welt
rennen, muss was faul sein an Moral, Werten usw. Nächster Schluss: Die
Moral, Werte etc. wurden zerstört, bla, bla.

Hm. Das ist ein rein konservativer Moralbegriff. Das das nicht so doll ist,
da sind wir uns sicher einig. Nur ist Moral eben mehr als ein solcher
verkürzter Begriff.

Mein Punkt ist: Es gibt keinen progressiven Moralbegriff. Moral, Ethik
et al. (Verantwortung würde ich da ausnehmen) ist immer Zeigefinger. Und
Zeigefinger ist Schrott.

Das, was im herrschenden
Wertekanon unsinnig, aber aus menschlicher, "übergeordneter" Sicht
vernünftig ist?

Es gibt diesen externen, übergeordneten Standort einfach nicht. Niemand
kann für andere definieren, was "vernünftig" ist, das können nur die
Menschen selbst tun.

Ja, aber die Menschen selbst tun das ja immer moralisch in dem Sinn, dass
sie normative "Gesetze" aufstellen. Das macht doch jeder und man kann auch
garnicht anders als sich sein Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen.
Moral - richtig verstanden - hat immer etwas mit Menschen zu tun.

Auch die "falsch verstandene" Moral hat mit Menschen zu tun - gerade
das: Die Menschen sollen dem normativen Imperativ folgen.

Ich finde wichtig, die überindividuelle und individuelle Ebene zu
unterscheiden. Moral und Co zielt auf die überindividuelle Ebene, denn
nur wenn sie sich sozial etablieren läßt (wie auch immer), dann wird sie
die Handlungsbeeinflussung bei den Einzelnen auch erreichen. 

Davon unterschieden ist die je individuelle Lebens- und
Handlungsvorstellung. Das nenn von mir aus Moral. Von mir aus sei sie
auch normativ. Von mir aus solen Menschen sich selbst gegenüber normativ
verhalten. Krass wird es erst - und dagegen wehre ich mich - wenn dieser
Mensch anderen (mir) mit seiner Moral auf die Nerven geht.

Wer aber so argumentiert, der will (bewußt oder
unbewußt) nur der blinden, abstrakten Rationalität der totalen
Verwertungslogik Geltung verschaffen.

Hae? Wieso das? Im uebrigen gibt es nichts, was so neutral gegenuer
jeglicher Moral ist, wie das die "blinde, abstrakte Rationalität der totalen
Verwertungslogik". Das ist doch gerade das perverse daran, dass eine
amoralische Logik, die sich nicht mehr rechtfertigen muss, die sich selbst
rechtfertigt ihr unmenschliches Werk treibt.

Es gibt keine "Amoral" - von welchem Standort soll man sie als solche
identifizieren? Von dem einer "höheren, besseren" Moral aus? Das nahmen
früher die Kommunisten für sich in Anspruch und rechtfertigten damit
allerlei Repression. Was sich also durchsetzt - und das finde ich
wirklich fatal - ist das nahegelegte "Vernünftige" oder "Moralische".
Dabei gibt es keinen "Naheleger", sondern systemisch werden durch die
Imperative der automatischen Wertverwertung "Moral" und "Ethik" und
"Vernunft" erzeugt: Die "Vernunft" der betriebswirtschaftlichen
Rationalität.

Daher kommen doch die zynischen Witze wie der: Frage: "Was ist schlimmer
(unmoralischer) als aus ausgebeutet zu werden?" Antwort: "Nicht
ausgebeutet zu werden."

Das ist auch der Punkt, wo ich
die Alienismus-Metapher stark finde, weil sie nämlich genau dieses
_unmenschliche_ betont. Das ist eine Stärke, die der ganzen hochanalytischen
Wertkritik abgeht, die das zwar als Voraussetzung hat, aber nicht wirklich
in der Theorie wiederspiegelt.

Diese Art der literarisch-deskriptiven Qualität gefällt mir auch super
gut! Ich bin ein Fan;-) Doch das steht überhaupt nicht gegen die
Wertkritik. IMHO ist beides wichtig.

Moral etc. hält gar nix zusammen, sie dient eher noch als
Rechtfertigungskonstrukt zur Perpetuierung von Herrschaft.

Das stimmt nur für einen verkürzten konservativen Moralbegriff. Normative
Theorie ist immer moralisch und muss nicht zwangsläufig Herrschaft festigen.

Mein Punkt: Theorie, die normativ ist, kannst du knicken.

In meiner Sicht machen die Begriffe nur vom Kopf auf die Füsse gestellt
halbwegs Sinn: Moral, Werte etc. sind _Ausdruck_, bewertetes Result von
Verhalten (und nicht "Ursache").

Das Sein bestimmt das Bewußtsein, Basis und Überbau? Das meinst Du wohl,
oder?

Ej, du willst mich wohl ärgern? Platter geht's nicht, oder?

Gegen beide Konstrukte habe ich nicht nur in Aufsätzen (die man ja nicht
gelesen haben muss...), sondern auch immer wieder hier geschrieben. Vor
allem dazu, dass menschliches Verhalten _nicht_ durch Bedingungen (Sein)
determiniert wird. Grrr... (mit dem Begriff "bestimmt" ist es etwas
komplizierter)

Auch an anderer Stelle hab ich ja schonmal geschrieben, dass diese Form von
Matrialismus IMHO zu platt ist. Moral, Kultur, etc. sind Ursache _und_
Wirkung von materieller Gesellschaftsformation.

Das ist mir zu platt. Warum schiebst du mir das unter? Die Begriffe
"Ursache" und "Wirkung" sind hier einfach inadäquat. Ich habe damit
(immer in Anführungsstrichen) die Standpunkte anderer dargestellt, nicht
aber selbst damit argumentiert. Nochmal: Grrrrr....

Moral, die Verhalten beeinflussen soll, ist _immer_ von aussen. Sie
gehört über Bord geworfen. Das, was von innen kommt, dein Denken über
Welt, ist deine individuelle Art der Weltbegegnung.

Dieser Gegensatz von "Innen" und "Aussen" stimmt so nicht. In mir sind immer
auch die kulturell überlieferten Vorstellungen eben auch die moralischen.
Ich kann mich davon nicht völlig loslösen. Ich kann auch nicht quasi als
geniales Individuum völlig losgelöst in mir über Welt nachdenken.

Für das normative Konstrukt "Moral" stimmt es hundertpro. Jedes
Individuum kann sich zu allen Bedingungen seines Lebens bewusst
verhalten (oder es lassen, das gehört zur Möglichkeit dazu). Meine
Bemerkungen zu Hans-Gert richteten sich gegen die Überlegung, ob Moral
quasi positiv besetzbar ist. Da meine ich: Auch eine progressive
Zumutung ist eine Zumutung (wie bei "Erziehung" im übrigen...).

Und immer, wenn sich
Linke bürgerlicher Formen bedienen, werden sie langfristig scheitern.
Davon seid "ihr Ossis" etwas geschädigt, gell?

Das versteh ich nicht so ganz. Bürgerlich ist doch eher die Vorstellung eben
eines solchen individualistischen Genies.

Das Genie war deine Deutung. IMHO ist der Versuch, mit Moral "positiv"
zu operieren, sie quasi "links" oder "progressiv" oder
"GPL-gesellschaftlich" zu besetzen, falsch. Damit wird nur der
Zumutungscharakter dieser Gesellschaft - ich werde dauern zu
megaschrottigem Zeug gezwungen, um überleben zu dürfen - "moralisch"
reproduziert: Nun _soll_ ich auch noch "oekonuxig" sein oder wie?

Und mit "Ossis geschädigt" spielte ich auf den traditionsmarxistischen
Versuch an, "Moral" im Sinne der "historischen Mission" positiv zu
besetzen. So war der (abgeschwächte) Arbeitsfetischismus in der DDR als
oberstes Gesolltes "moralisch" (und ordensmäßig)) sehr hoch besetzt.
Subversiverweise funktionierte genau das in der DDR nicht so gut wie im
Westen (das fand ich hingegen immer toll...).

Nimm nur als Beispiel die Oekonux-Liste: Hätten wir versucht, vorher
eine Art "Listen-Moral" festzulegen, wäre das Projekt sofort
gescheitert. Dennoch - ich nenne es sonst nicht so, aber hier mal zur
Illustration - hat sich eine Art "Moral" etc. herausgebildet. Sie ist
Resultat und nicht Ursache der Listenpraxis. Inwieweit diese "Moral" nun
je individuelles Verhalten beeinflusst, ist so vielfältig wie die Leute
sind: Ursache für ein bestimmtes Verhalten ist sie garantiert nicht -
Menschen sind eben keine Maschinen.

Das was Du aufmachst ist aber genau eine moralische Forderung. Nämlich die,
dass Regeln in der Praxis zwischen den Betroffenen ausgehandelt gehören.

Das ist doch beliebig: Du kannst alles zur moralischen Forderung
umdeuten. Ich fordere aber gar nix. Ich verhalte mich einfach. Andere
auch. Und dabei kommt was raus. Oekonux z.b., mit Regeln u.a. Das ist ok
so. Wozu da noch irgendeine "Moral" in Anschlag bringen?

Du greifst eine spezifische Moral heraus, nämlich eine von aussen
aufgezwungene, konservative, individualistische und wendest Dich dann mit
den völlig richtigen Argumenten gegen eine solche Moral unrichtigerweise
gegen jegliche Moral.

Ja, wie ich hoffentlich deutlich gemacht habe deswegen, weil Moral (so
man sie nicht als bloßes "Resultat", sondern als gewolltes Motiv des
Handelns begreift) immer normativ, konservativ und bürgerlich ist.

Moral widerspricht IMHO fundamental dem Prinzip der Selbstentfaltung,
sie ist kontraproduktiv. Jetzt erzähle mir nicht, Selbstentfaltung sei
aber auch ein moralischer Imperativ: Nein, ist sie nicht. Zur
Selbstentfaltung gehört nämlich auch, dass du dich entscheidest, dich
nicht zu entfalten. Niemand "soll" sich selbstentfalten.
Selbstentfaltung ist die Aufhebung von Normen. Frei von Normen - ha,
"frei von";-)

Robert schrieb:
Wenn -wie von einigen hier, scheint es- das Ziel einer "GPL-Gesellschaft" 
vertreten wird, heißt das dann nicht eigentlich, daß die GPL in den Kanon der 
"Moral" dieser -zu schaffenden- Gesellschaft aufgenommen werden soll? So 
würde aus der ethischen Auseinandersetzung [Stallmans] ein Baustein für die 
-zu schaffende- Moral "geboren" werden. Ginge das unter Ablehnung jeglicher 
Moral? Oder sollte die "GPL-Gesellschaft" auf "GPL"-vergleichbare Regeln 
verzichten müssen, um nicht moralisch zu werden?

"GPL-Gesellschaft" ist eine Bezeichnung für eine neue, freie
Gesellschaft, die Prinzipien Freier Software verallgemeinert. Dafür gibt
es auch andere - freie Auswahl sozusagen - ich nenne es z.B. gerne
"Freie Gesellschaft". "GPL-Gesellschaft" ist insofern eine ironische
Bezeichnung, weil in einer Gesellschaft, in der die Prinzipien Freier
Software verallgemeinert sind (u.a. GPL-Prinzipien), eine GPL nicht mehr
nötig ist. Sie wird dann als Schutzmechanismus nicht mehr gebraucht. Die
GPL-Gesellschaft hebt die GPL auf.

Für mich ist die GPL auch kein "moralisches" Konstrukt. Es ist mir egal,
welche moralischen Windungen bei RMS abgingen bis er zur GPL kam.
Relevant ist einzig der faktische Schutz, den die GPL schafft. Und das
war eine historische Leistung.

Gabriel hat IMHO wichtige Fragen gestellt:
Wieso macht ihr dann verdammt noch mal das hier alles?

Aus Gründen meiner Entfaltung, ganz einfach.

Wieso reisst ihr euch so den Arsch auf, wenn ihr nicht erkannt habt,
dass das was ihr tut Gut ist?

Es ist gut für mich, es ist meine Entfaltung. Ob es aber für andere gut
ist, muss ich nicht beantworten. Ich bin da ganz "individualistisch".
Wie bei der Freien Software:-)

Ciao,
Stefan

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