Message 03332 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT03104 Message: 12/43 L11 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Re: Moral und anderer Schrott



Hi Benni und alle,

Benni Bärmann schrieb:
Mein Punkt ist: Es gibt keinen progressiven Moralbegriff. Moral, Ethik
et al. (Verantwortung würde ich da ausnehmen) ist immer Zeigefinger. Und
Zeigefinger ist Schrott.

Was genau ist denn dann "Verantwortung"? Es gibt doch kaum ein moralischeres
Wort.

Ich habs deswegen ausgenommen, weil je ich stets für mein Handeln voll
verantwortlich bin. Diese Art der Verantwortung meinte ich. Eine Art
normative Verantwortung lehne ich gleichfalls ab.

Ich finde wichtig, die überindividuelle und individuelle Ebene zu
unterscheiden. Moral und Co zielt auf die überindividuelle Ebene, denn
nur wenn sie sich sozial etablieren läßt (wie auch immer), dann wird sie
die Handlungsbeeinflussung bei den Einzelnen auch erreichen.

Und ich finde es wichtig, die überindividuelle und die individuelle Ebene
_nicht_ in dieser Form zu unterscheiden. Das Individuum ist eine
buergerliche Erfindung.

Oha! Das überrascht mich. Verwechselst du es mit dem "Subjekt" als
spezifisch bürgerlicher Form des Individuums? Von Individuum gehe ich in
der Tat aus. Der Begriff ist in meiner Sicht nicht mit einer bestimmten
Vergesellschaftungsform verbunden.

Die hat sicher ihr Gutes aber eben auch ihre
Schattenseiten. Und "Ueberindividuell" macht ja nur Sinn im Bezug auf dieses
buergerliche Individuum.

Die Moral, die ich meine, ist genau das, was an dieser Schnittstelle
stattfindet. Das sind die Ueberlegungen die ich mir mache, in Bezug auf
Andere. Das ist das "Einfuehlen" in andere und das sie so zu behandeln, wie
man selber behandelt werden moechte. Solche Dinge.

Solche Überlegungen mache ich mir auch. Dafür brauche ich keinen
Moralbegriff. Im Gegenteil: Wenn der reinkommt, wird's normativ und
anstrengend.

Offensichtlich gibt es viele Leute, die nicht so handeln (ich ja auch oft,
logisch). Aber wie soll man diesen gegenübertreten, wenn nicht mit einem "Du
sollst"?

Wieso "soll" denn jemand anderes irgendwie sein oder irgendwas machen
für dich? Geht dir das nicht auch völlig auf den Keks, wenn jemand so an
dich herantritt: Tue dies, lasse das, sei so?

Natürlich ist das selber Vorleben und das erstmal sein Ding machen
das erste was man tut. Da man aber mit anderen zusammen lebt wird man früher
oder später damit anecken. Was dann?

Dann wird es nicht langweilig. Ihr habt was interessantes zu besprechen.
Wenn gesprochen ist (manchmal auch ohne), wird gehandelt. Damit kannst
du wieder anecken, na usw. Wo ist das Problem? Willst Du dich entlasten,
in dem du versuchst andere für dich passend normativ hinzubasteln? Indem
man gegenseitig aneinander rummanipuliert? Den anderen subtil oder offen
zu etwas zu bringen versucht? Vergiss es, das geht schief.

Hilft dann nur noch Macht? Soll ich
mich allen sozialen Beziehungen enthalten, die nicht meinen
politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechen?

Deine Meinung in jeglicher Hinsicht deutlich zu machen, ist doch voll
ok. Anstrengend wird es doch erst, wenn du erwartest (erhoffst,
erbittest, drohst etc.), der andere soll das annehmen oder übernehmen.
Das ist eine Zumutung.

Dann wär ich recht
schnell ziemlich einsam. Soll man einfach alles tollerieren?

Nein, warum? Den anderen ernst zu nehmen (und nicht mit Zumutungen zu
traktieren) bedeutet auch, eben grade nicht alles zu tolerieren, sondern
Merkwürdiges auch anzusprechen. Aber auch das ist kein "muss" oder
"soll";-)

In der Theorie der freien Kooperation wird es glaube ich auf den Punkt
gebracht. Dafuer sorgen, dass andere unter gleichen Bedingungen verhandeln
können. Das ist mehr als nur individualistisch sich selbst zu entfalten,

Was heisst "nur"? - Hm, ich verstehe langsam, dass "individuell" und gar
"individualistisch" für dich negativ besetzt ist. Für mich überhaupt
nicht. Ok, "individualistisch" impliziert meist "auf Kosten anderer".
Aber das ist ja gerade bei der Selbstentfaltung nicht so: Unbeschränkte
Selbstentfaltung ist nur möglich, wenn sich auch die jeweils anderen
entfalten können. Vielleicht ist "individualistisch" zu missverständlich
und "radikal individuell" ist besser.

enthält aber auch nicht den von Dir gefürchteten Zeigefinger, ist aber
meiner Auffassung nach trotzdem eine moralische Forderung.

Die Forderung der gleichen Bedingungen (und des Verlassens der
Kooperation etc.) kannst du knicken, wenn sie nur moralische Forderungen
wären. Sind sie nicht. Sie müssen faktischen Charakter annehmen. Es muss
faktisch die gleichen Bedingungen geben bzw. es müssen reale Massnahmen
überlegt werden, um sie herzustellen. Und es muss faktisch möglich sein,
"ohne Kosten" die Kooperation zu verlassen. Wie diese Mailingliste z.B.:
Du trägst dich einfach aus. So habe ich die Theorie der freien
Kooperation gelesen: sie funktioniert ohne Moral und Wertegeklingel.

Davon unterschieden ist die je individuelle Lebens- und
Handlungsvorstellung. Das nenn von mir aus Moral. Von mir aus sei sie
auch normativ. Von mir aus solen Menschen sich selbst gegenüber normativ
verhalten. Krass wird es erst - und dagegen wehre ich mich - wenn dieser
Mensch anderen (mir) mit seiner Moral auf die Nerven geht.

Auf die Nerven gehen laesst sich tatsaechlich nicht vermeiden, das stimmt.
Aber es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Leuten denen ich sehr gerne
auf die Nerven gehe.

Aber dann sind die Gründe eigentlich andere, oder?

... Du gehörst natürlich nicht dazu ;-)

Puh...:-)
Aber keine Bange: wenn dir mal der Moralische durchgeht, kann ich mich
immer noch wehren;-)

Es gibt keine "Amoral" - von welchem Standort soll man sie als solche
identifizieren? Von dem einer "höheren, besseren" Moral aus?

Ich glaube das ist jetzt ein Missverstaendnis. "Amoralisch" wuerde ich eine
Position wie Deine nennen, die Moral an sich ablehnt. "Unmoralisch" hingegen
eine, die eine bestimmte Moral ablehnt.

Ach so.

Mein Punkt: Theorie, die normativ ist, kannst du knicken.

Interessant. Sabine hat Dir ja grad vorgeworfen, dass Deine Theorie normativ
ist.

Das war, glaube ich, gegenüber Stefan Mn. - seufz...

Im Übrigen teile ich da Sabines Meinung völlig: "...im Rahmen einer
Theorie - in der Argumentation und Analyse - da kann das Normative
draussen bleiben, da hats eigentlich auch nix zu suchen." Ich würde noch
weiter gehen, weil ich nicht weiss, wo Normatives überhaupt was zu
suchen hat...

Jedes
Individuum kann sich zu allen Bedingungen seines Lebens bewusst
verhalten (oder es lassen, das gehört zur Möglichkeit dazu).

Genau das ist eben nicht der Fall.

Warum nicht? Liess doch noch mal - diesmal nicht normativ;-)

Aber ich gebe Dir recht, wenn einmal in
ferner Zukunft alle Menschen wirklich in der Lage sind, sich bewusst zu
verhalten, dann wird Moral überflüssig.

Du machst den alten Fehler der bürgerlichen Theorie ein "Individuum"
vorauszusetzen.

Den Fehler müsstest du mir genauer erklären. Das interessiert mich
wirklich. Gib mir mal ein paar Tipps, Literatur, Sites, Aufsätze.
Vielleicht verstehe ich dich dann besser.

Meine
Bemerkungen zu Hans-Gert richteten sich gegen die Überlegung, ob Moral
quasi positiv besetzbar ist. Da meine ich: Auch eine progressive
Zumutung ist eine Zumutung (wie bei "Erziehung" im übrigen...).

Wenn man Erziehung versteht als ein Kind zu ermächtigen gleich verhandeln zu
können, ist es keine Zumutung, oder?

Erwachsene und Kinder sind faktisch nicht gleich (mächtig). Wenn du es
aber im Sinne eines längerfristigen Zieles siehst, dann würde ich mit
Argusaugen gucken, ob du es normativ an das Kind heranträgst. Wenn du es
aber im wörtlichen Sinne des "Ermächtigens" (Macht gebens) meinst, wenn
es also nicht normativ gemeint ist - dann würde ich es nicht mehr
Erziehung nennen.

IMHO ist der Versuch, mit Moral "positiv"
zu operieren, sie quasi "links" oder "progressiv" oder
"GPL-gesellschaftlich" zu besetzen, falsch. Damit wird nur der
Zumutungscharakter dieser Gesellschaft - ich werde dauern zu
megaschrottigem Zeug gezwungen, um überleben zu dürfen - "moralisch"
reproduziert: Nun _soll_ ich auch noch "oekonuxig" sein oder wie?

Nein, auf dieser Ebene nicht. Aber es gibt schon die moralische Pflicht
andere nicht zu unterdrücken.

Nein, die gibt es nicht. Entweder du machts es aus ganz eigenem
Interesse nicht - weil du dir sonst nämlich letztlich selbst schadest -
oder du kannst es knicken. Wenn du es bloss aus moralischen
Verpflichtungen machst, dann krachst das Kartenhäuschen beim nächsten
Windstoss ein (siehe die ganzen Moralo-68er).

Ich glaube dahinter steckt unsere alte Debatte mit Alienismus vs.
kybernetische Maschiene. Wenn Herrschaft nur aus einer abstrakten Logik
ausgeübt wird, hat Moral natürlich keinen Adressaten mehr. Ich meine
hingegen, dass die abstrakte kybernetische Maschiene zwar die perfideste
Form von Herrschaft ist, aber es auch andere gibt, die sehr wohl
"persönlich" sein können. Und beides vermischt sich auch heute. Der Exekutor
des Wertgesetzes (genannt "Chef") hat auch immer in Grenzen eine persönliche
Verfügungsmacht über meine Arbeitskraft.

Ich glaube, dass es nicht die alte Debatte ist. Ich bin absolut nicht
gegen auch notwendige personale Auseinandersetzungen. Doch bitte immer
stets immer mit dem Wissen im Hinterkopf des umgreifenden systemischen
Zusammenhangs. Hier kommt das Moment der individuellen Verantwortung
rein: Die hat nämlich jede/r. Niemand - so er/sie das überhaupt blicken
sollte - kann sich sozusagen mit dem Verweis auf die automatische
Wertmaschine der Handlungsverantwortung entledigen. Denn trotz
Verwertungsautomat: Es gibt _immer_ Handlungsmöglichkeiten, niemand
_muss_ so handeln wie der Sachzwang es nahelegt.

Das was Du aufmachst ist aber genau eine moralische Forderung. Nämlich die,
dass Regeln in der Praxis zwischen den Betroffenen ausgehandelt gehören.

Das ist doch beliebig: Du kannst alles zur moralischen Forderung
umdeuten. Ich fordere aber gar nix. Ich verhalte mich einfach. Andere
auch. Und dabei kommt was raus. Oekonux z.b., mit Regeln u.a. Das ist ok
so. Wozu da noch irgendeine "Moral" in Anschlag bringen?

Weil, wenn andere sich verhalten, leider auch ziemlich gruseliges Zeugs
rauskommt.

Ja, das wirst du aber mit moralischen Zumutungen nicht ändern. Eher im
Gegenteil, denn sie reproduzieren auf der individuellen Ebene den
Zumutungscharakter dieser Gesellschaft. Moral spielt in der gleichen
Liga! Das wäre so, als wollte man mit Geldtricksereien das Geld
abschaffen.

Moral widerspricht IMHO fundamental dem Prinzip der Selbstentfaltung,
sie ist kontraproduktiv. Jetzt erzähle mir nicht, Selbstentfaltung sei
aber auch ein moralischer Imperativ: Nein, ist sie nicht. Zur
Selbstentfaltung gehört nämlich auch, dass du dich entscheidest, dich
nicht zu entfalten. Niemand "soll" sich selbstentfalten.

Selbstentfaltung beinhaltet aber ein Verhalten gegenüber den anderen, so
dass diese sich Selbstentfalten können. Das ist eine moralische Forderung.

Nein, ist sie nicht, kein bisschen. Entweder du erkennst, dass du für
deine Entfaltung die Entfaltung der anderen brauchst, oder du lässt es
bleiben. Es handelt sich nicht um einen moralisch konstituierten
Zusammenhang, sondern um einen faktischen: Die Entfaltung aller _ist_
die Voraussetzung für meine Entfaltung. Das ist kein "soll" drin.

btw: Ich wüsste gerne, was Annette zu all dem zu sagen hat, aber die ist
auch verschollen, oder?

Annette hat sich aus der Liste ausgeklinkt, weil sie ihre Diss. jetzt
durchziehen will.

Ciao,
Stefan

-- 
  Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
  Internetredaktion
  Potsdamer Platz 10, 10785 Berlin
--
  stefan.meretz verdi.de
  maintaining: http://www.verdi.de
  private stuff: http://www.meretz.de
--
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT03104 Message: 12/43 L11 [In index]
Message 03332 [Homepage] [Navigation]