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Re: [ox] Re: Moral und anderer Schrott



Hi Stefan,

Stefan Meretz schrieb
Was mich an Deiner Argumentation stört, ist die Tatsache, dass Du
Moral wohl nur als dem Menschen äußerliche Kategorie betrachtest.

Jein. Ich habe ja versucht darzustellen, dass ich den Moralbegegriff
bestensfalls deskriptiv verwenden würde, also für etwas, was "da" ist.
Was Robert z.B. tradiertes kulturelles Gedächtnis genannt hat. Ich habe
das verkürzt "Resultate" von Verhalten genannt. 

Ich habe noch mal in meinem alten "Philosophischen Wörterbuch" (DDR,
1974) [PWB] geblättert. Moral und Ethik sind dort ziemlich eins.
Sprachlich, wird ausgeführt, kommt beides von derselben Wurzel, das
eine aus dem Lateinischen, das andere aus dem Griechischen, und
entspricht dem deutschen Wort 'Sitte'. Und wurde, nach den dortigen
Ausführungen, auch lange nur in einem deskriptiven Verständnis
gebraucht.  Wir können uns also ruhig auf diesen deskriptiven Aspekt
zurückziehen, das ist mir sogar sehr lieb, denn es bringt meine Frage
klarer heraus: Was steht hinter den Werten, die den 'Alltag'
bestimmen, was kommt also zum Vorschein, wenn diese 'Alltagswerte'
wegbrechen? Das ist eine rein deskriptive Frage, 
<Einschub>
sofern man das überhaupt so abtrennen kann.  Deskription -> Reflexion
-> Beeinflussung von Handlung; auch deskriptive Moral impliziert
Moralphilosophie und dann Moralpraxis - allerdings ist nach [PWB]
Moral(praxis) klassengebunden und die herrschende Moral(praxis) die
der herrschenden Klasse. Diese Weisheit halte ich auch heute noch in
groben Zügen für gültig - und ihr Wirken verursacht vielleicht einen
Teil Deiner Pickel (habe allerdings Deine prinzipielle Ablehnung
normativen Moralins, auch von 'Freunden', durchaus zur Kenntnis
genommen) 
</Einschub>

Nennen wir es also nicht 'Moral', sondern 'Tradition', 'kulturelles
Gedächtnis' oder wie auch immer. 

Robert schrieb 

   Wo die Tradition es nicht mehr schafft, auf neue Entwicklungen
   Rücksicht zu nehmen, wird sie zum Hindernis und ruft Affekte der
   Ablehnung hervor.

Das ist doch sicher sehr ambivalent zu werten, solche Mechanismen, die
der heutigen zunehmenden Gedächtnislosigkeit (Ahistorizität)
Widerstand entgegensetzen, oder?

Individuell würde ich den Begriff der "Gründe" vorziehen.
Menschliches Handeln ist begründet. Dazu kann eine Übernahme von
moralischen Zumutungen oder eine Abweisung dessen gehören.  Ich
würde hier nach dem "warum" fragen. Damit käme man weiter, der
verselbstständigte Charakter von "innerer Moral" (innerem Zwang)
wird so potenziell transparent.

Womit Du, ich unterstelle Dir da sicher nichts Falsches, nicht nur
'(sach)logische Gründe' meinst, sondern auch emotionale,
psychologische usw. (die sich allerdings oft nur sehr bedingt in ein
'warum' auflösen lassen). Gibt es in dem Sinne 'moralische Gründe' im
Ensemble der Gründe? Wenn ja, wann sind sie von besonderer Bedeutung?
Das ist meine Frage, die Du mit Deinem Rückzug auf "Gründe" - und dann
Enden ins Wasser - ausblendest.

Mein Vorschlag (weniger philosophisch als psychologisch): mit dem
Begriff der (Handlungs-)Gründe. Den Moralbegriff brauchst du da
letztlich nicht mehr.

Wenn dich der "Wertewandel" interessiert, na gut, untersuch ihn. Aber
wende ihn nicht normativ, mach nicht an den "Werten" rum. Es bringt
letztlich sowieso nichts.

Nein, "Wertewandel" interessiert mich nicht normativ, sondern
deskriptiv.  Ich suche immer noch nach dem Substrat, in dem Gründe
ihre Wurzeln haben. Und ein Ensemble von Gründen hat sicher ein
Ensemble von Wurzeln - schreibe ich mal zur Sicherheit gleich dazu.
Wenn es (für Dich) so was wie Wurzeln gibt (gehe ich aber von aus). 

Alte Werte aufgegeben, neue (allgemein anerkannte) noch nicht da,
dazwischen liegt aber doch kein Vakuum, oder? Wie funktioniert ein
solcher Wechsel des Koordinatensystems gesellschaftlich? Gibt es eine
Ebene, die hinter den Werten steht und auf die man sich mental
zurückziehen kann, wenigstens zeitweise? Carl Amery meinte in einer
Diskussion neulich hier in Leipzig sogar, dass die Kirchen dafür einen
ähnlichen Resonanzboden abgeben könnten wie in der DDR vor 89. Ja,
dass dies ihre einzige wirkliche Chance sei.

Resonanzboden wofür? Die Leute der gehabten DDR ... hatten woanders
keine Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten, das war der
wichtigste Grund. Und sobald der Grund weg war, blieben sie auch
wieder fern. Aber jetzt läufts ins Off...

Off? Glaube nicht, denn wir sind m.E. mitten in der Keimformdebatte.
Allerdings sehe ich nicht die "Artikulations- und
Handlungsmöglichkeiten" (Artikulieren konnte man auch in seinen 4
Wänden und Handeln auch in der Kirche nicht), sondern die
Kommunikationsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur gemeinsamen
Reflexion als zentral an. Und das sind deutlich nichtlineare Effekte,
also Resonanz, denn das Ganze ist mehr als die Summe der Teile (wie
übrigens auch hier auf der Liste, meine ich).

Die Frage nach Kohärenz in dieser "individuellen Art der
Weltbegegnung" als Grundlage für Gesellschaftlichkeit, siehe
anderenthreads, blendest Du damit aber vollkommen aus.

Nein, ich denke nur anders drüber nach. Den Weg über Werte und Moral
und so finde ich inadäquat.

Das erstere finde ich ja auch besonders spannend dabei. Allerdings
sollten sich Brücken zu einem (deskriptiven) Werte- und Moraldiskurs
finden, den offensichtlich nicht nur ich für diese "Kohärenz" als
wesentlich erachte, denn es geht ja um dieselbe Realität. Oder sehe
ich da was falsch?

Zu dem Argument hatte ich schon vormails geschrieben: ...

Ja, vielleicht sollte ich erst alles lesen und dann antworten. Aber
das habe ich auch heute wieder nicht getan (bin gerade bei mail
78/138).  Ich hoffe, Du siehst mir das nach. 

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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